„Das Kind riecht nach Leiche. Es wird nicht lange leben.“

Seit meinem letzten Posting habe ich weitaus mehr Zeit verstreichen lassen als geplant, was unter anderem mit einer Reise zusammenhängt, die mich durch mehrere Städte an der Ostseeküste führte – und zu einer Begegnung mit meiner Familiengeschichte, die einen Stein ins Rollen gebracht hat. Eigentlich wollte ich vorerst weiter über meine Vorfahren mütterlicherseits zu schreiben, aber das ging nun nicht mehr. Zu lebendig stand plötzlich die Familie meines Vaters vor mir, zu viele Fragen kamen in mir auf.

Wir waren schon einige Tage auf der Ostsee unterwegs, als wir im litauischen Klaipeda, unter dem Namen Memel einst die nördlichste deutsche Stadt, per Autofähre hinüber zur Kurischen Nehrung schipperten. Auf einer schmalen Landstraße ging es weiter durch den Wald bis nach Nida, früher Nidden, wo Thomas Mann mit seiner Familie im Sommerhaus eine kurze glückliche Zeit verbrachte. Es war ein heißer, windstiller Tag, und als wir in Nidden  ausstiegen, fühlte sich für mich gleich alles seltsam vertraut an: die Landschaft mit ihrem Sandboden und den typischen windschiefen Kiefern, die Stille, vor allem aber der trockene, harzig-würzige und trotzdem frische Geruch der Luft.

Am Thomas-Mann-Haus angekommen, erinnerte mich der Blick über das Haff an Lubmin, den kleinen Ort am Greifswalder Bodden (ja genau, der mit dem Atomkraftwerk!), wo ich mit meinen Geschwistern so manchen Sommertag am Strand verbracht habe. Na klar, deshalb also fühlte ich mich hier so zu Hause! Aber gleichzeitig geisterte mir der absurde Gedanke durch den Kopf: Hier war ich doch schon mal! – was natürlich Unsinn ist.

Nein, hier war ich ganz sicher noch nie gewesen. Aber vielleicht, schoss es mir durch den Kopf, meine ostpreußischen Ahnen, die Vorfahren meines Vaters. Während wir schwitzend auf die Hohe Düne stapften, eine der höchsten Wanderdünen Europas, von der aus sich der Blick auf Haff und Ostsee gleichzeitig öffnet, versuchte ich mich zu erinnern, was ich über meinen Großvater väterlicherseits wusste: Er hieß Carl Michael Gutt und kam, so steht es in seiner Heiratsurkunde, am 1. Oktober 1886 in Masuren zur Welt, in dem 500-Seelen-Ort Bäslack bei Rastenburg, der damals zum Regierungsbezirk Königsberg gehörte – also in der Nähe des Landstrichs, der sich gerade vor meinen Augen auftat.

Mir war also durchaus bewusst, dass mein Großvater und damit auch mein Vater und seine Nachkommen hier verwurzelt waren, aber eine so tiefe Vertrautheit mit einer Landschaft wahrzunehmen, das hatte ich nicht erwartet. Und gerade deshalb kam in mir der Wunsch auf, mehr darüber zu erfahren, was für ein Mensch mein Großvater war, wie es ihm zu Lebzeiten erging. Er starb einige Jahre vor meiner Geburt, weshalb ich ihn nie kennenlernen konnte.

Wieder zu Hause, begann ich, online nach Informationen über meinen Großvater und seine Familienmitglieder zu suchen, Anfragen an Standesämter, Archive und Kirchengemeinden zu richten. Auf die Antworten werde ich noch eine Weile warten müssen, aber ich mag es nicht weiter aufschieben, über meinen Opa Carl zu schreiben. Deshalb trage ich hier schon einmal das zusammen, was ich von meiner Mutter erfahren und im Internet recherchiert habe. Wenn ich immer wieder Daten und Ortsnamen einflechte, dann denke ich dabei vor allem an meine weitläufige Familie, meinen Sohn, meine Großnichten und -neffen und alle, die noch geboren werden. Vielleicht wollen sie ja eines Tages wissen, woher sie kommen.

Ob mein Großvater und seine Brüder Wilhelm und August in ihrem Geburtsort Bäslack, dem heutigen polnischen Bezławki, auch aufwuchsen oder ob die Familie in Ostpreußen noch einmal umzog, weiß ich nicht. Ebenso wenig habe ich herausfinden können, wer der älteste der drei war, ob es noch weitere Geschwister gab und wie die Eltern hießen. Fest steht, dass ihr Vater starb, bevor die drei Jungen das achtzehnte Lebensjahr erreicht hatten. Die Mutter heiratete wieder, und zwar einen streng katholischen Polen, der mit ihren Kindern nicht zurechtgekommen sein soll – und sie nicht mit ihm. (Laut meiner Mutter hat mein Großvater sein Leben lang eine, milde ausgedrückt, tiefe Abneigung gegenüber Polen an den Tag gelegt. Ein Beispiel dafür, wie schlechte Erfahrungen in Kinderzeiten die Einstellung eines Menschen prägen können.)

Einer nach dem anderen verließen die Jungen mit 14 Jahren die Schule und wurden Landarbeiter, vermutlich auf dem benachbarten Gutshof Rehstall. Vielleicht bekam der Gutsbesitzer, für den sie arbeiteten, etwas davon mit, wie der Stiefvater sie behandelte, vielleicht wagte einer der drei, ihn um Rat zu fragen, jedenfalls besorgte er den Jungen Arbeit und Unterkunft auf einem Gut bei Züssow in Vorpommern, das dem seinerzeit fortschrittlichen Gutsherrn Friedrich von Homeyer bzw. dessen Erben gehörte. Fortschrittlich deshalb, weil von Homeyer Mitte des 19. Jahrhundert zur Ertragssteigerung neue Methoden in der Langwirtschaft eingeführt hatte, wie die Drainage von Feldern und den Einsatz von Kunstdüngern, und Schafe züchtete, die er bis nach Südafrika und Amerika exportierte.

So machten sich Carl, Wilhelm und August irgendwann um die Jahrhundertwende auf den weiten Weg nach Vorpommern. Wie es ihnen wohl erging, als sie dort ankamen, wo sie niemanden kannten? Wo mögen sie untergekommen sein? Gab es einen Menschen, der sich um sie kümmerte, womöglich eine kinderlose Witwe? Schließlich sollen sie alle drei noch nicht volljährig gewesen sein. Bisher konnte ich zu alledem nichts erfahren. Immerhin liegt unser neues Zuhause, werden sich die Jungen vielleicht gedacht haben, nicht irgendwo in Preußen, sondern dort, wo man die Ostsee schon fast riechen kann. Und es ist ein kleines Dorf, wie wir es von zu Hause kennen. Nur dass man hier Plattdeutsch sprach, wird für die Halbwüchsigen mit ihrem ostpreußischen Zungenschlag, Ostkäslausch genannt, anfangs eine Hürde gewesen sein.

Mein Großvater Carl, der sich nun Karl nannte – so las ich es später auch auf seinem Grabstein –, trat als Kutscher in den Dienst des Gutsherrn. Die Thurower Gutsanlage, fertiggestellt im Jahr 1905, hat die Zeiten überlebt; eine Zeitlang konnte man dort eine Ferienwohnung mieten und Urlaub machen. Auch die Stallungen und die kleinen, inzwischen modernisierten Katen der Tagelöhner sind erhalten geblieben. Beim Rundgang durch den verschlafenen Ort, der nur eine einzige Ringstraße hat, habe ich mich in andere Zeiten versetzt gefühlt. Nicht nur Karl, auch sein Bruder August lebte in Thurow. Wann Wilhelm, der dritte im Bunde, nach Anklam ging, muss ich noch herausfinden.

Am 12. Mai 1911 heiratete mein Großvater eine junge Frau aus der Gegend. Bertha, seine schlanke blonde Braut, war drei Jahre jünger als er und stammte aus Gustebin, nur knapp zwanzig Kilometer von Thurow entfernt. Wie die beiden sich wohl kennenlernten? Ich stelle mir vor, Bertha könnte als Zimmermädchen im Gutshaus arbeiten und Karl jeden Tag begegnen, wenn er die Herrschaft mit der Kutsche abholt. Ihr gefällt sein verschmitztes Lächeln und wie ruhig und geduldig er mit den Pferden umgeht. Und schließlich ist sie mit ihren zwanzig Jahren ja auch in einem Alter, in dem man Ausschau nach einem Bräutigam hält … Ja, so könnte es gewesen sein. Oder auch ganz anders.

Bertha war das siebte von elf Kindern, von denen zwei schon wenige Wochen nach der Geburt verstarben. Über meine Großmutter und ihre Abstammung weiß ich seit kurzem eine Menge; ich habe es eher zufällig und mit großem Staunen auf einer privaten Ahnenforschungsseite im Internet entdeckt. Ein sehr berührender Moment, die Namen meiner vor etwa 220 Jahren geborenen Urururgroßeltern zu lesen, zu erfahren, wo sie gelebt haben und woran gestorben sind. Dazu mehr in einem späteren Post.

Bertha und Karl heirateten in der Johanneskirche in Wusterhusen, ganz nach dem Brauch: „Geheirat’ watt bie’t Mäken to Hus!“. Wer mögen Karls Trauzeugen gewesen sein? Seine Brüder vielleicht? Und ob er, ein junger Mann von 24 Jahren, vor dem Altar wohl an seine Mutter dachte? Ich kann es mir gut vorstellen.

Etwa zu dieser Zeit muss es passiert sein, dass aus Karl Carl wurde. Und noch eine Namensänderung wurde vorgenommen, vermutlich aber erst später: aus Gutt wurde Guth. Es existieren Urkunden mit beiden Namensvarianten. Grund soll die Klangähnlichkeit mit einem derben plattdeutschen Ausdruck gewesen sein, die beim Beurkunden einer mitfühlenden (oder prüden) Amtsperson auffiel und stillschweigend behoben wurde. Im Trauregister taucht mein Großvater als Carl Michael Gutt auf, auf seinem Grabstein heißt er Karl Guth. Auch sein Bruder Wilhelm nannte sich irgendwann „Guth“. Ich selbst wurde als Kristine Guth geboren und musste mich von meinem schönen H verabschieden, als mir mein erster Personalausweis ausgestellt wurde.

Einige Zeit nach der Hochzeit, wahrscheinlich 1912 oder 1913, brachte Bertha ihr erstes Kind zur Welt, das auf den Namen Wilhelm getauft wurde. Nicht lange darauf bekamen die jungen Eltern erneut Nachwuchs, wieder ein Junge, Fritz oder Herbert genannt (beide Namen tauchen in meinen Aufzeichnungen auf). Kurz nach der Geburt, so erzählte meine Großmutter später, kam eine Nachbarin zu Besuch, vielleicht war es auch die Hebamme. Sie soll den Säugling beäugt und beschnuppert haben, bevor sie ihn Bertha mit den harten Worten zurückgab: „Das Kind riecht nach Leiche. Es wird nicht lange leben.“ Wie hart, wie herzlos, so etwas auf den bloßen Verdacht hin auszusprechen! Ich kann gar nicht glauben, dass jemand es fertigbringt, eine junge Mutter dermaßen zu erschrecken. Tatsache aber ist, dass zu jener Zeit manche Frauen, insbesondere natürlich Geburtshelferinnen, über medizinisches Erfahrungswissen verfügten, das meist von Generation zu Generation weitergegeben worden war. Sie erkannten zum Beispiel schon kurz nach der Entbindung, ob ein Kind an Mukoviszidose litt: nämlich dann, wenn es deutlich nach Salz schmeckte. Und prophezeiten dem Säugling einen frühen Tod.

Ich stelle mir vor, dass Bertha ihren neugeborenen Sohn fortan ständig im Auge behielt und sich besonders sorgfältig um ihn kümmerte. Doch die Nachbarin sollte Recht behalten: Das Kind wurde nur wenige Wochen alt. Woran es starb, werde ich wohl nie erfahren.

Und dann begann im August 1914 der Erste Weltkrieg. Es wird Bertha schwergefallen sein, ihrem Mann Lebewohl zu sagen, als er, genau wie seine beiden Brüder, zum Militär eingezogen und an die Westfront geschickt wurde. Ob mein Großvater die Kriegsbegeisterung vieler Deutscher wohl teilte? Ich kann es mir gut vorstellen, nach all dem, was ich über ihn weiß.

Der erste Gefallene der Kirchengemeinde, der die drei Brüder angehörten, wurde schon im September 1914 betrauert. 22 Männer kehrten am Ende des Krieges nicht heim; eine Familie Stöwsand verlor gar drei ihrer Mitglieder. Auch Karls Bruder August fiel gleich im ersten Kriegsjahr, am 2. Februar 1915. Seinen Namen und das Todesdatum habe ich an einer Züssower Kirche auf einer Gedenktafel für die im Ersten Weltkrieg Gefallenen entdeckt.

Karl geriet an der Westfront in Kriegsgefangenschaft und wurde in England interniert, später auf einem Landgut als Zwangsarbeiter eingesetzt. Das klingt schlimmer, als es gewesen sein wird. Er wurde nämlich, so soll er später berichtet haben, ausgesprochen gut behandelt und konnte sich jeden Tag satt essen, während im Deutschen Reich die Lebensmittel streng rationiert wurden, um den Bedarf des Heers zu decken, und die Bevölkerung hungerte. Brot- und Fettkarten gehörten ab 1915 zum Alltag. Es gefiel meinem Großvater so gut in England, dass er sogar mit dem Gedanken spielte, nach seiner Entlassung dort zu bleiben, wie er später freimütig zugegeben haben soll. Die bloße Vorstellung, er könnte sich gegen eine Heimkehr entschieden haben, jagt mir einen Schrecken ein – denn dann wären ja mein Vater, meine Geschwister, ich und alle unsere Nachkommen nie geboren worden.

Am Ende siegte wohl Karls Pflichtgefühl und die Verbundenheit mit Bertha. Und noch etwas wird ihn bewogen haben, zu Bertha zurückzukehren, wenn er es denn erfahren hatte: Während seiner Kriegsgefangenschaft war auch Wilhelm, sein erster Sohn, ganz plötzlich gestorben. Der Junge war etwa drei oder vier Jahre alt, als er beim Spielen mit anderen Kindern in einen heftigen Streit geriet, am Kopf dunkelrot anlief und tot umfiel. So berichteten es jedenfalls die herbeigeeilten Spielgefährten; die Mutter selbst hatte das Unglück nicht mit angesehen.

Was auch immer die Ursache gewesen sein mag, es wird Bertha das Herz zerrissen haben, ihren Erstgeborenen auch noch zu verlieren. Ich frage mich, ob Wilhelm vielleicht mit einem Herzfehler zur Welt gekommen war, bei Anstrengung und Stress einen zu hohen Blutdruck im Kopf bekam und infolgedessen einen Hirnschlag erlitt. Dieses Symptom, den schon nach kurzem Rennen und Toben knallroten, verschwitzten Kopf, kenne ich von meinem Sohn, der zum Glück als Kind erfolgreich operiert und vor einem möglicherweise schlimmen Schicksal bewahrt wurde, weil man seinen Herzfehler früh erkannt hatte.

Bertha ahnte sicher nicht, dass mit ihrem kleinen Wilhelm etwas nicht stimmte. Wie ertrug sie es bloß, zwei Söhne geboren und beide so früh verloren zu haben? Vielleicht fand sie ja Trost in der Kirche, beim lieben Gott, an den sie aus tiefstem Herzen glaubte, wie ich aus eigener Erfahrung weiß. Oder zweifelte sie an ihm, wo er ihr doch ein so schweres Los auferlegte? Und ob sie wohl Menschen um sich hatte, die sie auffingen, sie nicht nur mit einem „Nu kumm man, dat watt allens wedder gaud!“ trösteten, sondern mit ihr trauerten? Ich fürchte, die Zeiten waren nicht danach. Es war Krieg, jeder hatte sein eigenes, schweres Leben zu ertragen und musste damit klarkommen. Ich kann mir aber vorstellen, dass Berthas Geschwister, von denen einige in der Greifswalder Gegend wohnten, also nicht weit von Thurow entfernt, sie in dieser schweren Zeit unterstützen. Vielleicht zog Bertha auch zu einer ihrer Schwestern, denn in ihrem Dorf gab es für sie ja nun nichts mehr zu tun.

Selbst mich, die ich hundert Jahre später darüber schreibe, macht es unsagbar traurig, mir das Leid meiner Großmutter vorzustellen. Wenn ich mich in Berthas Situation hineinversetze, frage ich mich, wie es in ihr ausgesehen haben mag, wo sie doch eben noch eine eigene Familie hatte und plötzlich ganz allein dastand. Und noch dazu wusste sie nicht einmal, ob ihr Mann jemals zurückkehren würde. Dabei war sie noch so jung, knapp dreißig Jahre alt! Der innere Kampf gegen die Verzweiflung wird sie geprägt und zu der Frau gemacht haben, wie ich sie in meinen ersten neun Jahren erlebte: kühl und beherrscht, unnahbar, prüde und alles andere als einfühlsam. Bertha war keine liebe Oma. Heute kann ich verstehen, was sie so hat werden lassen. Schade, dass wir uns nie wirklich nahegekommen sind, obwohl ich doch in ihrer Nähe aufwuchs und lange Zeit sogar mein Bett neben ihrem stand.

Wie es mit meinen Großeltern nach Karls Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft weiterging, habe ich schon aufgeschrieben, aber es leuchten noch zu viele rote Fragezeichen im Text. Bis zum nächsten Posting gibt es also einiges zu recherchieren. Und vielleicht bekomme ich ja Antworten von den Archiven, die ich angeschrieben habe. Ich bin sehr gespannt auf die Wahrheit.