Ottokar Hahn: LEBENSSPUREN – EIN ZWISCHENBERICHT

Wir Studenten verfolgten gebannt, wie sich die Lage [in Ungarn] entwickelte. Mit einigen Kommilitonen rief ich die „Studentische Aktionsgemeinschaft Freies Ungarn“, die Stagfu, ins Leben. Dadurch lernte ich gleich zu Beginn des Semesters eine Reihe von Freunden kennen, die mir, neben der Sängerschaft Leopoldina, in der ersten Zeit in Köln Orientierung und Rückhalt gaben.[…]
Ende Oktober fuhr ich nach Saarbrücken, um an der dortigen Universität für Unterstützung zu werben. Während ich in den vollen Hörsaal hineingeleitet wurde, in dem sich über zweihundert Studenten befanden, konnte ich kurz dem jungen Professor unser Anliegen erklären. Er feuerte mich an: „Reden Sie, reden Sie!“ Mein flammender Appell (das Sprechen vor großem Publikum war mir in jenen Jahren durchaus geläufig) überzeugte fast hundert meiner Zuhörer, sich uns anzuschließen. Ein traumhafter Start für unsere Kampagne!
Kaum war ich zurück in der Kölner Zentrale, eskalierte die Lage in Ungarn. Als es hieß, sowjetisches Militär marschiere in das Land ein, um die Revolution gewaltsam zu beenden, stand für mich und einige meiner Freunde fest: Wir müssen mehr tun. Es gab viele Verletzte, praktische Hilfe war vonnöten. Das Deutsche Rote Kreuz und die Caritas stellten uns einige Lkw mit Verbandsmaterial, Lebensmitteln und Kleidung zur Verfügung, und so machten wir uns am 4. November – meinem 22. Geburtstag – auf den Weg nach Ungarn. Wir waren insgesamt etwa zwanzig Studenten, alles junge Leute in meinem Alter. Beseelt von diesem Wunsch, wollten wir den Ungarn zur Freiheit und zur Demokratie verhelfen. Beides hatten wir nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges als höchstes Gut schätzen gelernt.

Wir trafen auf chaotische Zustände. Diejenigen von uns, die sich bis Budapest durchschlugen, gerieten zeitweise in die Hände der Russen; einige blieben gar verschwunden. Meine Gruppe wurde in Pamhagen am Neusiedler See, an der Grenze zu Österreich, aufgehalten. Wir entschlossen uns, die Aktionen von dort aus zu organisieren, was dennoch nicht ungefährlich war. Von den österreichischen Grenzern fühlten wir uns im Stich gelassen – sie waren meist nicht vor Ort.
Viele Ungarn versuchten, nach Österreich zu gelangen. Die einzige Möglichkeit, den parallel zur Grenze auf ungarischer Seite verlaufenden Einser-Kanal zu überqueren, bot die Brücke von Andau, eine schmale Holzbrücke, auf der Bahngleise verliefen. Auf österreichischer Seite gab es keine Militärs, auf ungarischer Seite dafür umso mehr. Soldaten versuchten, ihre massenhaft heranströmenden Landsleute am Passieren der Grenze zu hindern.
Hier konnten wir helfen: Kaum ein ungarischer Soldat ließ sich angesichts einer Uhr, eines Kompasses oder eines anderen nützlichen Gegenstands nicht erweichen, eine Gruppe von Flüchtlingen durchzulassen. Gefährlich wurde es meist nur, sobald Offiziere sich blicken ließen.
Allerdings war das Ganze nicht ohne Risiko. Wir mussten uns die „Geschenke“ ja zunächst in Österreich besorgen, also immer wieder selbst die Grenze überqueren.
Einmal geriet ich nachts in eine brenzlige Situation: Ich war gerade auf ungarischer Seite, unweit des Kanals, als sich Stimmen näherten. Trotz des Mondlichts konnte ich nichts erkennen. Ich war ganz auf mein Gespür angewiesen – Ungarisch verstand ich ja nicht. Offenbar handelte es sich um Offiziere, die eine Inspektion vornahmen.
Was sollte ich tun? Über die Brücke laufen? Dann würden sie mich sehen und sofort schießen. Ins Wasser springen? Damit riskierte ich angesichts der winterlichen Kälte eine Lungenentzündung oder gar Schlimmeres. Also versteckte ich mich in der Uferböschung. Ich musste lange warten, bis ich mich endlich unbeobachtet fühlte und loszurennen wagte. Unter Geschosshagel überquerte ich die lange Brücke nach Österreich, so schnell ich konnte.
Meine Gefährten und ich fanden uns auf den Gleisen wieder zusammen. In Pamhagen kehrten wir in den nächsten Dorfkrug ein. Es dauerte eine Weile, bis unsere körperliche und nervliche Anspannung wich. Mancher „Ratzeputz“ – ein hochprozentiger Kräuterschnaps – half dabei.
Mit unseren nächtlichen Einsätzen konnten wir Hunderten von Menschen zur Freiheit verhelfen. Insgesamt flüchteten etwa 180.000 Ungarn in den Westen. Rund 70.000 gelangten allein über die Brücke von Andau nach Österreich, bevor sie am 21. November 1956 vom ungarischen Militär gesprengt wurde.

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